China

Barbara Lange

Von Fuzhou zu den She bei Xiapu

07.04.2025

Als Sammi mich in Shaoxing zum Zug gebracht hat, hatte sie sich verabschiedet mit den Worten: „Also, dann bis in 10 Tagen!“ Ich war leicht verdattert. Irgendwie war ich davon ausgegangen, nach dem Kus in Ningbo nochmal nach Shaoxing zurückzukehren, ehe ich zur nächsten Station meiner Reise fahre. Anscheinend nicht. In meinem Plan stand als nächster Aufenthalt Fujian. Und es waren zwischen Ningbo und Fujian drei freie Tage vermerkt. Davon war schon einer vorbei, weil ich mit Pang nach Pu Tuo Shang gefahren war. Ich war also gedanklich dabei, nach Shaoxing zurückzukehren und dann irgendwohin in der Provinz Fujian zu fahren. Das „Irgendwo “ entpuppt sich als Fuzhou. Verkehrstechnisch macht es auch Sinn, von Ningbo direkt nach Fuzhou zu fahren. Ist auch nicht weiter tragisch, ich habe nur etwas wenig Unterwäsche dabei. Und mir fehlt ein Schirm.

Den könnte ich jetzt prima brauchen, den selbstverständlich schüttet es wie aus Eimern, als ich nach der 4 stündigen Fahrt ankomme.

Was ich überhaupt in Fuzhou mache ist etwas kryptisch.  Einen Vortrag halten, das ist klar. Aber ich werde insgesamt drei Tage dort sein, weil – so Sammi: „There will be a speech there this time, and the other two days will be for you to conduct research together. You need to provide some guidance on the product design of their students.“ (Du sollst dieses Mal einen Vortrag halten und danach werdet ihr zwei Tage Recherchearbeit leisten. Du sollst ihre Studenten beim Produktdesign beraten.)

Wie ich dazu komme, Studenten bei einer Exkursion zum Thema Produktdesign zu beraten ist mir völlig schleierhaft. Was ich dazu sagen soll auch und wer immer auf diese Ideen kommt, erst recht. Wird schon werden. Überraschen lassen.

Am Bahnhof holt mich Professor Chen ab. Sie organisiert die Veranstaltung.  Dass ihre Organisationsform – sagen wir: „kreativ“ ist, hatte ich im Vorfeld schon gemerkt.  Am Tag vor meiner Ankunft hatte sie sich gemeldet und gefragt, ob ich nach meinem Vortrag noch einen Workshop unterrichten könnte. Ein Plakat hatte sie dafür auch schon gestaltet. Mitten drauf prangte wieder meine Biene. Leider hätte sie nur eine Nähmaschine. Ob ich einen Handnähkurs anbieten könnte. Ja, nee. Nicht mit der Biene. Die kann ich höchstens auf der Maschine vorführen. Zum Handnähen kann ich anbieten, dass ich zeige, wie man die dazugehörige Sonnenblume näht. „Ja, wunderbar, passt!“ Das Kleinhirn schreit: „WARUM passiert uns das immer wieder?“. Die linke Hirnhälfte meint: „Immer mit der Ruhe. Wird schon klappen.“ Die rechte Hirnhälfte meint: „Irgendwas fällt uns immer ein.“

Das Hotel liegt auf dem Universitätsgelände und bietet ein hervorragendes Restaurant, das von Einheimischen auch für Hochzeiten gebucht wird. Mein Vortrag läuft wie geschmiert. Wenn man mal davon absieht, dass mittendrin beim Mikrofon die Batterie leer ist. Ist ja nur gut, dass das auch anderen passiert.  Meine Übersetzerin – eine Studentin im dritten Studienjahr, die hochmotiviert ist. Später erzählt sie mir, dass sie 22 Jahre alt ist und zwei Geschwister hat. Wäre sie um die 50 oder ca. 10 jahre alt, wäre das nicht weiter verwunderlich, aber die Gruppe der 20-Jährigen fällt noch voll in die Zeit der 1-Kind-Politik. Sie erzählt, dass ihre Mutter die Schwangerschaft geheim gehalten hat und sie nach der Entbindung (ich vermute unter einem falschen Namen) aus dem Krankenhaus so ihre Worte „gestohlen“ hat. Sie wurde zu einer Bauernfamilie gegeben, die in den Bergen wohnte und blieb so lange dort, bis es einem entfernten Verwandten, der im Staatsdienst war, gelang, offizielle Papiere für sie zu bekommen. Später wurde ihre Mutter nochmal schwanger. Sie bekam einen Sohn und die Familie musste eine hohe Strafe für die Geburt bezahlen. Das ist wohl mit ein Grund dafür, warum sie keine finanzielle Hilfe von ihrer Familie annehmen möchte. Sie finanziert ihr Englischstudium mit Nachhilfestunden. Den Vortrag meistern wir beide zusammen wie gesagt völlig problemlos.

Der Handnähkurs ist schon etwas schwieriger.  Die Teilnehmerinnen haben Stoffstücke und Stickgarn vor sich liegen. Und Nähnadeln, die anderswo als Baseballschläger durchgehen. Bei der Nähmaschine fehlt das Füßchen zum Freihandsticken. Und Chen ist in einem anderen Vortrag.  Zu allem Überfluss ist meine Übersetzerin nicht firm mit Nähvokabeln. Sie stellt daher die Arbeit ein mit dem Hinweis, meine Ausführungen wären selbsterklärend. Ich zeige also den Unterschied zwischen diversen Nähnadeln, welchen Unterschied gutes Werkzeug macht, erkläre, wie die Sonnenblume genäht wird und demonstriere die Biene eher als Trockenübung. Erst heißt es, wir hätten den gesamten Nachmittag zur Verfügung, dann heißt es, ich soll um 16:00 Schluss machen. Als ich das tue, bleiben alle seelenruhig sitzen und nähen weiter. Anscheinend sind alle zufrieden. Irgendwie geht es immer. „Sag ich doch!“ meint die rechte Hirnhälfte. 

Die Exkursion an den zwei folgenden Tagen entpuppt sich als Ausflug zu der Minderheit der She. China besteht zu 93% aus Han-Chinesen. 56 Minoritäten machen die restlichen 7% aus. Wenn es um immaterielles Kulturgut geht, besinnt man sich ganz oft auf diese Minderheiten, die mit ihren Traditionen, Trachten und Handarbeiten die kulturelle Vielfalt bereichern.

Die Gruppe der She umfasst ca. 700.000 Menschen. Sie waren ursprünglich Fischer, die im nördlichen Teil von China gelebt haben.  Vor ca. 300 Jahren wurden sie dort von gebildeteren Bevölkerungsgruppen vertrieben. Daraufhin haben sie sich in den Bergtälern im nördlichen Zeil der Provinz Fujian und im Süden von Zhejiang angesiedelt. Die Gruppe, die wir besuchen wohnt in der Umgebung von Xiapu.

Die She leben in Holzhäusern, sind für den Tee-Anbau bekannt, glauben an Geister, haben spezielle Feste und eine eigene Hochzeitskultur. Dazu gehört, dass man niemanden mit dem gleichen Nachnamen heiraten darf. Was insofern eine Herausforderung darstellt, als es nur vier verschiedene Nachnamen in dieser Gruppe gibt. Der Mann zieht oftmals in das Haus der Braut ein und nimmt damit den Nachnamen seiner Frau an. Die She haben eine eigene Sprache, aber keine eigene Schrift.  Sie schreiben und sprechen daher alle auch chinesisch.

Am Tag vor unserer Ankunft haben die She ein traditionelles Fest gefeiert, bei dem neue Liebespaare gebildet werden. Am Tag nach unserer Abfahrt feiern Sie das Chingming Fest, wie alle anderen Chinesen auch.

Auf der Fahrt dorthin fallen mir in den Bergen Mauern auf, die wie ein halbes Oval aussehen und in deren Mitte sich ein Tor befindet.  Das sind Gruften, teilt man mir mit, die man aber nur in ganz kleinen Bereichen um Xiapu findet. Ob das etwas mit den She zu tun hat, finde ich nicht heraus.

In dem Dorf Banyuli besuchen wir das ehemalige Holzhaus einer reichen Familie, die Tee angebaut hat. Das Haus ist überraschend groß und dient heute als Museum. Es wurde von Lei Qisong aufgebaut, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, alles zu sammeln, was er zur Kultur der She finden kann. Er hat sich damit den offiziellen Status eines Kulturhüters erarbeitet.  In dem Museum sieht man einen Stammes-Stab, der das Machtsybol des Stammesführers war. Daneben eine Art Brautschleier aus Silber. Die Schnüre setzen sich aus verschiedensten Abbildungen von Fischen zusammen. In einer Ecke grinst uns ein steinernen Löwe ohne Mähne an. Im zweiten Stock befindet sich die Sammlung von alten Trachten der She.

Die unverheirateten Mädchen tragen bei festlichen Gelegenheiten einen dicken Kranz auf dem Kopf,  der mit silbernen Anhängern geschmückt ist. Die verheirateten Frauen binden ihre Haare zu einem Pferdeschwanz, denn sie mit rotem Garn umwickeln. Das soll den Hals eines Phönix darstellen.  Auf dem Kopf thront ein ovales Gestell, das den Kopf des Phönix darstellt. Der Phönix ist in China die weibliche Begleitung des Drachen. Insofern überschneiden sich viele Symbole und Figuren der She mit denen der Han-Chinesen.

Nach dem Besuch des Museums ist unser Aufenthalt bei den She auch schon wieder vorbei. Wir fahren ca. eine Stunde mit unserem Bus in ein weiteres Dorf.

Der Busfahrer liebt seine Hupe und macht davon ausführlich Gebrauch. Übrigens sieht man hier im Navi ganz genau, wie lange die Ampelphase noch dauern wird, und wo überall Cameras stehen. Also im Prinzip an jedem 7. Verkehrspfosten. Ich habe mitgezählt. Der Busfahrer fährt so konsequent auf der linken Straßenseite, dass ich zwischendurch überlege, ob vielleicht in diesem Landkreis Linksverkehr herrscht. Die anderen Autofahrer sind allerdings alle überzeugte Anhänger vom Rechtsverkehr. Ich kann nicht so recht entscheiden, ob mich das nun beruhigt oder nicht. Wir kommen aber heil an.

In Xinan zeigt uns ein Herr, wie die traditionellen Hüte der She aus hauchdünnen Bambus-Adern geflochten werden. Eine She führt vor, wie sie ihre Tracht besticken. Wir bekommen alle ein Stück weißen Stoff, Stickgarn und dicke Sticknadeln, um es selbst auszuprobieren.  Die Gruppe setzt sich zusammen aus 2 Professorinnen aus Taiwan,  die nationales Kulturgut erforschen und zwei Doktorandinnen von Professor Chen. Sie widmen sich der Frage, wie man traditionelle Handarbeiten in alltagstauglichen Produkten umsetzen kann, um zu verhindern, dass diese Techniken aussterben. Der Rest der Gruppe sind Studenten mit Fachrichtung Modemanagement, Modedesign, Mediendesign, Fotografie und Tanz. Dazwischen ich. Und ein Mann mit einer Videokamera. Und meine Übersetzerin. Die Sache mit dem Sticken ist nur so semi-erfolgreich. Darum geht es aber auch gar nicht.  Zusammen sollen wir in Gruppenarbeit Ideen für Produkte rund um die Muster der She entwickeln. Das Konzept ist einerseits spannend, andererseits ist keinem so recht klar, wie wir die Sache angehen sollen. Dazu kommt, dass uns zwar unterschiedlichste Stoffe und eine Schneiderpuppe zur Verfügung gestellt werden, ansonsten aber nichts.

Ich habe zum Glück noch die Sticknadel von der Stickübung. Und ich finde eine Rolle Stickgarn.  Aus meiner Handtasche grabe ich eine kleine Schere und ein paar Stecknadeln aus, die in der Gruppe heißbegehrt werden. An dieser Stelle kommen den ersten Teilnehmern Bedenken, ob es das ist, was sie sich vorgestellt hatten. Noch vor dem Abendessen verabschiedet sich die Dame, die im Bus neben mir gesessen hat. Sie war mir richtig sympathisch. Nach dem Essen verlassen uns die Modemanagerin und der Fotograf. Das ist schade, mit den beiden hatte ich mich auch gut unterhalten. Die beiden sind die ersten Vegetarier, die ich in China getroffen habe. Sie meinen, das ginge im Alltag ganz gut, aber bei jeder Art von offiziellem Essen haben sie ganz schlechte Karten. Es gibt zwar immer unzählige Gerichte, aber geschätzte 95% beinhalten Fleisch.  Die beiden überlegen kurz, ob sie mich einfach nach Fuzhou mitnehmen sollen.  Das geht aber schlecht, nachdem ich offiziell eine der Dozentinnen bin. Also bleibe ich. „WARUM???“ fragt das Kleinhirn wieder. „Hast du eine bessere Lösung?“ fragt die linke Hirnhälfte.  Hat es nicht.

Den ganzen nächsten Tag verbringen wir in dem Kreativzentrum und arbeiten vor uns hin. Nachdem alle abgereist sind, mit denen ich mich bis dahin angefreundet hatte, bleibe ich, ohne einer Gruppe anzugehören. Ich versuche auch nicht, in einer Gruppe der Studenten aufgenommen zu werden. Ich bin mir sicher, dass es ihnen peinlich wäre, mit einer Dozentin zusammenzuarbeiten. Außerdem wäre die Kommunikation äußerst mühsam. Das will ich mir und ihnen nicht antun. Meine Übersetzerin hat kapituliert und ließt ein chinesisches Buch über griechische Mythologie, das sie irgendwo gefunden hat. Und die Dozentinnen aus Taiwan leiten die Gruppe, kommen daher als Arbeitspartnerinnen auch nicht in Frage. Wobei die Anleitung daraus besteht, dass eine der beiden eine Einführung gibt und sie sich anschließend beide mit Professor Chen in den Nebenraum zurückziehen und fachsimpeln. Da muss ich auch nicht dabei sein. Allerdings wäre es in dem Raum wärmer.  Der Arbeitsraum ist nicht beheizt und draußen haben wir 10 Grad. Kurz: es ist ungemütlich. 

Nichtsdestotrotz kommt mir tatsächlich eine Idee, was ich mit dem Organza anstellen könnte, das auf dem Materialtisch zur Verfügung gestellt wurde. Ich versuche damit das Schriftzeichen „Fu“ zu erstellen,  ohne in den Stoff zu schneiden. „Fu“ bedeutet Glück. Das Zeichen sieht man gefühlt überall und bei den She ganz besonders.  Es gelingt mehr schlecht als recht, aber als Idee für zukünftige Projekte möchte ich es trotzdem nicht ausschließen. 

In unserem Hotel ist es nur noch kalt. Die Migräne, mir der ich seit einer Woche kämpfe, macht mir zu schaffen. Ich schlafe in meinen Klamotten, weil ich es sonst nicht aushalte. Und dann stellt sich am nächsten Tag raus, dass ich mit der Klimaanlage in meinem Zimmer hätte heizen können. Darauf bin ich nicht gekommen. Ehrlich gesagt, habe ich nicht einmal bemerkt, dass das Zimmer eine Klimaanlage gehabt hätte. Ich bin einfach davon ausgegangen, dass es keine Heizmöglichkeit gibt. Aber das merke ich mir für das nächste Mal, wenn ich in einem Hotelzimmer friere.

Am zweiten Tag unseres Workshops ist das Wetter wesentlich besser. Die Sonne scheint, es hat 25 Grad. Mittags fährt der Großteil der Gruppe eine halbe Stunde mit unserem Bus zum Hotel zurück, um 1/4 Stunde auszuruhen und anschließend eine halbe Stunde wieder ins Dorf hinauf.  Darauf habe ich keine Lust. Ich bleibe mit 4 Leuten zurück. Es stellt sich heraus, dass ein Student aus der Gegend stammt und ein Auto dabeihat. Er fragt, ob wir einen Pfirsichgarten in der Blüte sehen wollen.  Ja! Daraus entwickelt sich ein netter Spaziergang, der mich wieder mit der schrägen Gesamtsituation aussöhnt. Wir sehen Verkaufsstände, die symbolisches Geld und Kleidung, die auf hauchdünnes Papier gedruckt wurden, zum Verkauf anbieten. Es wird beim Chingming-Fest verbrannt, damit die Ahnen in der Nachwelt genügend Geld und Kleidung haben

Am Nachmittag werden die Gruppen-Ergebnisse gezeigt, es werden die obligatorischen Fotos gemacht und es geht zurück nach Fuzhou.  Unterm Strich war ich vermutlich nur dabei, um der Exkursion das Flair einer internationalen Veranstaltung zu geben.  Andererseits hätte ich von dem Umland sonst nichts gesehen.  Von daher geht mein Ausflug in Ordnung. Von den She hätte ich jedoch gerne mehr gesehen.