China

Barbara Lange

Noch einmal Hangzhou

14.04.2024

Derzeit werde ich in China regelrecht von einer Universität zur nächsten durchgereicht. In den nächsten vier Tagen soll ich die Technische Hochschule von Zhejiang besuchen. Auf dem Programm stehen diverse Vorträge, von denen ich zwei halten und ein Workshop, an dem ich teilnehmen soll. Außerdem soll zum Schluss ein Künstlerdorf besucht werden. Hausmeister Jin holt morgens meinen großen Koffer im Hotel ab, um ihn ins Museum zu bringen, wo er während meiner Abwesenheit deponiert wird. Ich bin nur mit kleinem Gepäck unterwegs. Hausmeister Jin macht Zeichen, dass er während meiner Abwesenheit heulen wird, dass die Tränen spritzen, dann kommt meine Fahrerin und schon bin ich wieder unterwegs. Am Ziel angekommen, werde ich von 4 Dozent:innen und einem riesigen Schild empfangen und sofort werde ich zack-zack durch das Institut für Bekleidungstechnologie geführt. Die Übersetzerin steckt im Stau und damit ist die Verständigung etwas mühsam. Aber wozu gibt es Dolmetscherprogramme? Gemeinsam wurschteln wir uns durch.

Die Führung geht durch Säle mit halb elektronischen Webstühlen, vollelektronischen Webstühlen, einem Raum mit einem EEG, in dem geprüft wird, welche Emotionen die unterschiedlichen Kleidungsstücke und Schnitte hervorrufen. Daneben ist ein Labor, das die Augenbewegungen aufzeichnet, wenn man gemusterte Stoffe betrachtet. Damit soll festgestellt werden, welche Elemente im Design am meisten Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Im nächsten Raum steht eine junge Frau mit einer Hose, die mit Sensoren ausgestattet ist. Mit diesen Sensoren soll überprüft werden, ob Kleidungsstücke die Beweglichkeit einschränken. Ich bin wie von den Socken. Ich weiß gar nicht so richtig, was ich zu so viel technischer Grundlagen-Forschung sagen soll.

Es geht weiter durch einen Saal, in dem Siebdruck gemacht wird und einem weiteren, in dem Färbeexperimente durchgeführt werden. Hier fühle ich mich schon etwas heimischer. Mittlerweile ist die Dolmetscherin Zengke eingetroffen. Sie hat sieben Jahre in London Modedesign studiert und ist diejenige, die mit den Studenten färbt. Und schon geht es in die nächsten Labore in denen ich mich wieder leicht deplatziert fühle. In dem einen werden Materialien auf ihre statische Aufladung geprüft, im nächsten auf Feuerfestigkeit, dann wieder auf elektrische Leitfähigkeit. Ein Labor entpuppt sich als Klima-Kapsel, in der alle erdenklichen Klimabedingungen simuliert werden können. Ein weiterer Raum hingegen wird konstant unter den gleichen klimatischen Bedingungen gehalten, um Vergleiche zwischen Textilien besser zu ermöglichen. Ich fühle mich leicht fehl am Platz hier ist ein geballtes Fachwissen vorhanden, von dem ich nur träumen kann. Ich weiß ehrlich nicht, was ich den Leuten hier noch erzählen soll.

Der nächste Raum ist ein Klassenzimmer mit Industrienähmaschinen. Hier kommt die Frage auf, was ich für meinen Workshop benötigen würde. Ich falle aus allen Wolken. Mir wurde gesagt, dass ich an einen Workshop teilnehmen sollte, nicht dass ich ihn halte. Ach soooooo! Ja. Nee. Doof. Ja. Ob ich denn trotzdem einen zweistündigen Kurs für die Studenten halten könnte. – Na ja, okay, das lässt sich einrichten… Prima! Welches Material sie denn bereitstellen sollten? Ich fühle mich etwas überfahren. Ich weiß seit genau 2 Minuten, dass ich überhaupt einen Workshop halte und noch ist nicht einmal geklärt, welches Thema der Workshop haben soll. Ich frage also nach der Ausstattung, die vorhanden ist. Rollschneider und Lineal haben Sie schon mal nicht. Sie hätten große Stoffscheren. An Stoffen sind ausschließlich Bekleidungsstoffe vorhanden. Ob ich nicht ein Handnähprojekt machen könnte. Nach den Erfahrungen von vorgestern, wo wir in drei Stunden das handgenähte Projekt nicht fertig stellen konnten, habe ich wenig Ambitionen, denselben Kurs jetzt in zwei Stunden durchzuziehen. Andererseits hängen hier Kleidungsstücke, wie Hosen und Blusen an einem Kleiderständer, die von den Schülern genäht wurden. Die können eindeutig sauber nähen – da kann man dann schon etwas Anspruchsvolleres anbieten. Ich frage, ob die SchülerInnen jemals Foundation Paper Piercing gemacht haben. Nein haben sie nicht. Wir einigen uns darauf, dass wir also FPP machen werden. Das halte ich für sinnvoller als Handnähen, was ihnen die eigenen Lehrer vor Ort genauso gut beibringen können wie ich. Damit wäre das also geklärt. Wenn man hier nicht flexibel ist wie ein Gummiband gehört man echt der Katz‘.

Anschließend haben wir einen kleinen Empfang beim Dekan und der Politsekretärin, die der Schule zugeteilt ist. Ich bekomme eine Urkunde überreicht, dass ich ausländische Expertenberaterin der Schule bin und schaue mir einen kurzen Vortrag über die Geschichte der Hochschule an. Die Technische Hochschule von Zhejiang gilt als drittbeste Universität des Landes. Das hatte die Kunstakademie ebenfalls von sich behauptet, aber irgendwie scheinen die in unterschiedlichen Ligen zu spielen. Die Hochschule wurde erst vor zwei Jahren erweitert, die Räumlichkeiten in denen wir uns befinden sind dementsprechend neu. Alles vom feinsten. Auch die Kantine. Ich werde in einen Nebenraum der Mensa geführt. Hier steht ein Tisch für sechs Personen, an dem uns Speisen serviert werden, wie in einem 5-Sterne-Restaurant. Einem chinesischen 5-Sterne-Restaurant, versteht sich. Unter anderem gibt es Schildkröte, Schweinedärme und Hühnerfüße. Gefühlt wird das Essen hier immer ausgefallener und wilder, je länger ich hier bin. … Dazu Eiskraut (Mesembryanthemum crystallinum), auch Eisblume oder Kristall-Mittagsblume, was ich noch nie gesehen habe. An den Stielen sind kleine, feste Bläschen, die Wasser enthalten. Dadurch sieht die Pflanze aus, als wäre sie mit Eiskristallen besetzt. Sie geben echt alles.

Nach dem Essen halte ich einen Vortrag über die Geschichte des Patchwork in Europa und anschließend hält Professor Xia Fan einen Vortrag über ethnische Minderheiten, die sehr abgelegen wohnen und und daher bislang wenig Kontakt zum restlichen China hatten. Er findet die Lebensweise etwas rückständig, zugleich attestiert er den beiden Bevölkerungsgruppen eine tiefere seelische Verbundenheit mit ihrem Handwerk, als die Han-Chinesen die es haben. In beiden Minderheitsgruppen wird eine sogenannte Feuerpflanze verarbeitet genau genommen ist die Pflanze eine Art Gerbera. Die Blätter sind stark wachshaltig außerdem lässt sich eine Bastschicht auf der Unterseite der Blätter abreiben und zu langen Fäden verspinnen. Professor Xia ruft die anwesenden Studenten dazu auf, sich mit diesen Techniken auseinanderzusetzen und sie als Inspiration für zukünftige Modeentwürfe zu verwenden. Einen Link zu der Pflanze habe ich hier gefunden.

Einen zweiten gibt es hier.

Im darauffolgenden Vortrag, geht es um die neuesten Entwicklungen bei Stickmaschinen, und wie traditionelle Muster mit hochmodernen Stickmaschinen umgesetzt werden können. So gibt es mittlerweile Stickmaschinen, die den Faden während des Stickvorgangs färben können. Auf die Weise erzielt man natürlich unwahrscheinlich feine Farbübergänge. An der Universität wird mit der Wilcom Software gearbeitet. Die Dozentin betont dabei immer wieder, das Stickerei für die Student:innen ein interessantes Schwerpunktthema sein könnte, weil sie offensichtlich der Meinung ist, dass Stickerei in Zukunft eine immer größere Rolle in der Bekleidungsindustrie spielen wird

Nach den Vorträgen git es eine Diskussionsrunde: Wie ich zu meinen Entwürfen komme, was meine Arbeitsreihenfolge ist und wie ich daran gehen würde, Anfängern das Patchwork beizubringen. Also erzähle ich, dass ich zuerst den Umgang mit Rollschneider und Lineal unterrichten würde. Sie sind ganz interessiert, was denn ein Rollschneider und ein Patchwork Lineal sei. Und keine 30 Sekunden später kommt die Frage, was denn der Unterschied zwischen traditionellem und modernem Patchwork wäre. So langsam dämmert es mir, dass ich mich hier vielleicht doch fachlich einbringen kann. An dieser Schule ist überhaupt kein Wissen über Patchwork vorhanden. Also nicht, dass man das falsch versteht: für mich ist sowas in Ordnung, muss ja auch nicht jeder wissen. Aber offensichtlich sind sie interessiert, sonst hätten sie mich ja nicht für vier Tage an die Schule eingeladen. Ich biete also an, dass ich eine kurze Einführung an Ort und Stelle halten würde, wenn jemand meinen Laptop aus dem Auto holen würde. Dort hätte ich eine Powerpoint-Präsentation, mit der ich die Thematik verdeutlichen kann. Sie sind total begeistert und schon geht es los: Wir schauen uns gemeinsam die Folien an, die ich sonst bei der Patchwork Gilde im Grundkurs Modern als Einführung verwende. Die Tatsache, dass diese Diskussion ursprünglich nur eine Stunde dauern sollte und jetzt mittlerweile zweieinhalb Stunden dauert zeigt, dass sie sehr offen für das Thema sind. Nach dieser spontanen Vorstellung werde ich ins Hotel gebracht. Keine 10 Minuten, nachdem ich das Zimmer bezogen habe, klingelt der Zimmerservice und fährt ein Teewagen mit einem warmen Abendessen für mich herein. Noch während ich dabei bin es auszupacken, klingelt das fest installierte Telefon neben meinem Klo. Das ist mir auch noch nicht passiert. Schließlich hat das Zimmer auch ganz normal am Bett einen Anschluss. Ich bin höflich und gehe ran, aber als die Anruferin feststellt, dass ich nur Englisch spreche, will sie doch nicht mehr mit mir telefonieren. Nach dem Essen gehe ich noch mal raus aus dem Hotel, um die Umgebung zu erkunden. Wie ich beim Aufzug ankomme, kommt ein kleiner Roboter hinausgefahren, der offensichtlich zu einem der anderen Zimmer möchte. Ich frage mich was der da will? Das Bergschaf Trulla an meiner Handtasche hingegen fragt sich ob der Irrsinn in China jemals Feierabend macht. Anscheinend nicht. Und später am Abend tragen wir selber noch zu dem Irrsinn bei: beim Spazierengehen dämmert mir, dass der kleiner Roboter vielleicht dafür zuständig ist, die leer gegessenen Teller von den Zimmern wieder abzuholen. Das würde ich ja zu gerne sehen. Also gehe ich wieder an mein Telefon und rufe die Rezeption an die erste Dame ruft aufgeregt ihren Kollegen, als sie feststellt, dass jemand, der Englisch spricht, in der Leitung ist. Der Kollege beherrscht den Satz: „Wait a minute“. Immerhin. Das kann ich auf Chinesisch nicht sagen. 2 Minuten später klingelt es bei mir an der Tür, ich hoffe auf meinen kleinen Roboter, als ich die Tür aufmache steht dort der Herr von der Rezeption und hält mir ein Handy mit einem Übersetzungsprogramm fürs Gesicht. Ich erkläre ihm wieder, dass doch bitte die Teller abgeholt werden sollen. Er geht. Noch mal zwei Minuten später klingelt es wieder an meiner Tür. Aber statt einem Roboter räumen jetzt zwei freundliche jungen Damen meine Teller ab. Ich muss unbedingt zusehen, wie ich an diesen Roboter rankomme. Das ist meine Mission für morgen.