China

Barbara Lange

Flexible Pläne

04.04.2024

Dienstag begann mein Tag relativ normal, ich ging durch den Innenhof des Museums zu meinem Studio und winkte einem netten Mann zu, der gerade in der offenen Gemeinschaftsküche im Hof dabei war, Schnecken zu kochen. Mittags setzen sich hier alle zusammen, der Hausmeister wärmt in einem Dampfgarer oder Konvektomat das Mittagessen auf, was sich jeder in einer Blechbüchse von zu Hause mitgebracht hat. Daneben steht ein Wok in einer Art Grill, in dem auch gekocht werden kann. Wie gesagt, alles etwas rustikaler hier, aber irgendwie nett.

Der Plan sah vor, dass ich am Nachmittag zu einer Mittelschule nach Shaoxing gebracht werden sollte, wo ich einen Vortrag über Patchwork und die Anwendung von künstlicher Intelligenz in Patchworkarbeiten sprechen sollte. Diese Einladung hatte der Sohn von Mr Yang ausgesprochen, der Lehrer an dieser Schule ist. Ich habe zwar schon ein bisschen mit künstliche Intelligenz rumexperimentiert, aber eine Expertin bin ich bei aller Liebe nicht. Das war so ein typischer Fall von den Bock zum Gärtner gemacht, aber nachdem es der Sohn von meinem Gastgeber war, sah ich auch keine echte Möglichkeit, aus der Nummer rauszukommen. Carmen Bickle hat mir hier völlig unkompliziert unter die Arme gegriffen. Mit Anregungen von ihr hatte ich meine Präsentation relativ schnell fertig. Vor dem Vortrag sollte ich mit Sammi zum Mittagessen gehen. Das war mir ganz recht, denn auf dem Wochenplan stand unter „Mittwoch“, dass der Tag zur freien Verfügung steht, und ich wusste noch nicht so richtig, was ich mir darunter vorstellen sollte. Das wollte ich gerne mit ihr besprechen.

Es ging damit los, dass Mr. Yang junior sich bei mir meldete, dass er leider eine Klasse zu einem Wettbewerb begleiten müsste und deswegen bei meinem Vortrag nicht dabei sein könnte. Also gut. Eine Person weniger vor der ich mich blamieren würde. So gegen 11 Uhr kam Sammi in mein Studio und erklärte mir mit Übersetzungshilfe aus dem Handy, dass ihre Mutter angerufen hätte und sie jetzt nach Hause müsste. In zwei Tagen steht hier das Qingming Fest an, bei dem die Ahnen geehrt werden. Das Fest hätte dieses Jahr eine besondere Bedeutung, die sie nur nicht erklären kann und deswegen sollte sie mit der Mutter losgehen, um das Grab zu schmücken. Warum das jetzt so hopplahopp passieren musste ist mir nicht so ganz klar. Aber egal, es kann ja auch sein, dass Sammi in ihrer Planung etwas verpeilt war. Bei uns gibt es auch genügend Leute, für die Weihnachten immer so plötzlich kommt. Auf jeden Fall würde unser gemeinsames Mittagessen ausfallen und ich sollte mittags mit der restlichen Belegschaft essen. Mir schwarmte Übels: Schnecken..

Ich wurde positiv überrascht. Jeder hatte sich ins Zeug gelegt und ein besonders gutes Gericht mitgebracht, Schnecken gab es keine. Dafür Entenzungen, die ich bis dato noch nie gesehen hatte, Bambus in allen Wachstumsstadien, eine Ente, die ziemlich salzig war und Wassermelone. Jeder, der mich etwas näher kennt, weiß dass Wassermelone nicht zu meinen Leibspeisen gehört. Ich kann die nicht ab. Der Hausmeister saß neben mir und drängte mir ein Stück auf. Aus Höflichkeit habe ich sie dann doch gegessen. Später im Studio kam er noch mal an und fragte mich, ob er mir noch mal ein Stück Wassermelone bringen dürfte. Er wirkte dabei so eifrig und begeistert, dass ich es nicht über das Herz brachte nein zu sagen. Also sagte ich: „Gut ein Stück.“ Er sagte: „Zwei!“ Gebracht hat er mir vier…

Kurze Zeit später kam dann das Auto, ich fuhr zu dem Vortrag, der zu meiner Überraschung nicht in einer Mittelschule, sondern an einem College in der Fakultät für Mediendesign stattfand. Bei der Ausstattung fällt einem echt ein Auge aus. Der Vortrag lief gut, wobei ich nie so genau weiß, was die Studierenden wirklich denken. Manchmal habe ich das Gefühl, dass der Fototermin ringsum diese Vorträge das eigentlich Wichtige ist. Damit kann man zeigen, dass die Schule Kontakte zu internationalen Künstlern unterhält, das alles wird medienwirksam hübsch verpackt , alles andere ist zweitrangig. Wahrscheinlich könnte ich mich da auch hinstellen und erzählen, dass ich dienstags meine Socken wasche. Egal, ich hatte auf jeden Fall mein Versprechen gegenüber meinem Gastgeber eingehalten und das war mir das Wichtigste.

Dadurch, dass das Mittagessen mit Sammi ausgefallen war, wusste ich jetzt immer noch nicht so richtig, was für Mittwoch angedacht war, allerdings war das Wetter ziemlich unbeständig, deswegen wollte ich mich jetzt auch nicht auf den Weg machen, um auf eigene Faust Sightseeing zu betreiben, sondern ging wie gewohnt ins Studio. Mit hilfer meiner Assistentin arbeite ich gerade an zwei Tops. Die Nähmaschine hatte in den letzten Tagen ganze Arbeit geleistet, daher wollte ich sie heute morgen als erstes mal gründlich putzen und pflegen. Während ich das mache, brauche ich mein Handy nicht, also kann ich die Zeit nutzen, um ein Update zu installieren, das hier seit Tagen schon rumquengelt.

Ich hatte gerade die Stichplatte und den Greifer entfernt, als Sammi wie aus dem Boden gestampft neben meinem Schreibtisch erschien und mir mitteilte, dass Mr Yang einen Fernsehtermin vereinbart hatte, die wollten bei mir im Studio filmen. „Oh – das ist ja schön“ sagte ich „wann kommen die denn?“ – Sammi: „Die packen gerade ihre Kameras aus. Die stehen schon im Hof!“ Ich denk, mich tritt ein Pferd. Menschenskinder das hätte auch leicht ins Auge gehen können! Wie gesagt, eigentlich hatte der Plan einen freien Tag mit Sightseeing vorgesehen. Aber egal. Das war jetzt nebensächlich. Im Studio sah es aus wie Hulle.

Für einen Laien musste es den Eindruck erwecken, als ob ich gerade dabei sei, die Maschine zu zerlegen und zu reparieren. Auf dem Boden lag ein großes Stück Vlies von einem Ballen, der außenrum schmutzig geworden war. Ich hatte die äußere Schicht abgeschnitten und beiseite gelegt, wusste aber nicht so genau, wo ich damit abbleiben sollte, daher lag das Stück noch bei mir rum. Daneben der Ballen. Auf dem Zuschneidetisch standen noch die Wassermelonen-Stücke von gestern. Und hier kommt jetzt sofort ein Filmteam rein. Und zu allem Überfluss kann ich mich noch nicht einmal richtig verständlich machen, weil mein Handy immer noch mit dem Update beschäftigt ist und damit die Übersetzungsfunktion blockiert ist. Na bravo. Was macht man in so einer Situation? Richtig, man schießt wie ein Irrlicht durchs Studio und startet eine Blitzaktion im puncto aufräumen. Ist ja nicht das erste Mal in meinem Leben. Der Vlies-Rest verschwindet mitsamt der Wassermelone hinterm Schreibtisch, schnell die Maschine wieder zusammengesetzt, ein paar Kleinigkeiten unter einem Quilt verschwinden lassen, und schon sah es annehmbar aus. Ein Gutes hatte die ganze Geschichte: Mr Yang fiel auf, dass die zweite Lampe im Studio nicht funktioniert. Der Hausmeister bekam einen Anpfiff. Nachdem das Filmteam wieder verschwunden war, erschien er reumütig mit einer Glühbirne und einem Kabel und montierte beides. Kein guter Tag um Hausmeister in China zu sein.

Das Mittagessen wiederholte sich wie am Vortag mit einem Unterschied: Heute gab es Schnecken. Offensicht brauchen die länger 🤣🤣. Der Hausmeister saß wieder neben mir und zeigte mir, wie man die Dinger isst. Das wäre ja gar nicht mein Problem. Ich bekomme die schon aus dem Gehäuse raus. Sie schmecken nur, als hätte man bei einer Schlammschlacht den Kürzeren gezogen und wäre mit offenem Mund in eine Matschkuhle gefallen. Ein bisschen habe ich den Eindruck, den Chinesen ist schon bewusst, dass sie einige Sachen essen, die bei uns nicht auf der Speisekarte stehen. Sie finden ihre eigene Küche aber umwerfend gut und finden die Europäer ein bisschen zimperlich. Eine Zimperlese wollte ich nicht sein und in dieser Gruppe hatte noch keiner gesehen, dass ich Schnecken schon mal probiert hatte, ich würgte also eine runter. Jetzt kam Mrs Yang rein, die eben auch noch nicht gesehen hatte, dass ich eine Schnecke gegessen hatte. Und wenn sie es nicht gesehen haben, glauben sie es nicht. Jedenfalls meinte sie, sie müsste mir etwas Gutes tun, indem sie mir zehn Schnecken pulte und in eine Schüssel gab. Ich kriege eine Krise. Die sind alle so rührend um mich besorgt, und gleichzeitig lässt sich auch keiner abweisen. Sie meinen es wirklich herzensgut mit mir. Also habe ich aus Höflichkeit noch mal drei Schnecken gegessen. Vielleicht muss man sich nur daran gewöhnen und es wird mit der Zeit besser. Nein wird es nicht. Aber wenigstens waren alle waren zufrieden mit mir. Der Hausmeister war glücklich, dass auch diese Hürde genommen war und zog die Schüssel mit Schnecken zu sich, um sich selbst eine großzügige Portion aufzugeben. Meine Chance! Ich schob ihm meine Schüssel mit den restlichen Schnecken zu. Damit war wohl jedem klar, wie die Sache stand. Ich hoffe dass ich damit aus dem Schneckendilemma raus bin.

Abends erschienen übrigens Sami wieder bei mir im Studio und erklärte mir, dass wir jetzt miteinander essen gehen würden. Es war ein richtig netter Abend an einem beleuchteten Kanal, der gerade für die Festlichkeiten geschmückt wird, die ab morgen losgehen. Mal sehen, was mich da alles wieder erwartet. Auf dem Plan steht nichts.