China

Barbara Lange

Die Terrakotta Armee in Xi’an

15.05.2024

Der letzte Tag in Xi’an bricht an. Ich freue mich, dass ich Gelegenheit bekomme, die Terrakotta-Armee anzuschauen. Das habe ich schon seit Jahren vor, nur hat es sich nie ergeben. Von Freunden und Bekannten habe ich Unterschiedlichstes gehört. Die einen sind total begeistert von dieser Ausstellung und stimmen der Meinung zu, dass es sich hierbei um das achte Weltwunder handelt, die anderen sagen, dass es die Reise nicht wert wäre, weil man in einer Industriehalle regelrecht an den Figuren vorbeigeschleust wird. Aber wenn man in Xi’an ist und nicht als kompletter Banause gelten möchte, schaut man sich diese Ausstellung selbstverständlich an. Für mich wird damit in gewisser Weise ein Traum wahr. Nicht unbedingt in dem Sinne, dass ich unbedingt diese Terrakotta-Figuren an sich sehen wollte, sondern weil sie für mich symbolisieren, wie sich Dinge verwirklichen können, die man für unmöglich gehalten hat. Als die Terrakotta-Armee 1974 entdeckt wurde, ging kurze Zeit später die Nachricht um die Welt. Ich kann mich an die Nachrichten und den Bericht in National Geographic noch erinnern. Damals war China noch gegenüber der Außenwelt abgeschottet. Man wusste zwar, dass dieser Kunstfund existiert, er erschien aber unerreichbar. Und jetzt stehe ich hier und schaue mir die Figuren an.

Wir haben zum Glück einen Tag erwischt, an dem nicht so viel los ist. Der Parkplatz wirkt fast leer. Han parkt ganz vorne am Eingang. Der Eingangsbereich wird von ungefähr 15 Ticketschaltern gesäumt, von denen nur zwei offen sind. Man ist also auf wesentlich mehr Andrang ausgerichtet. Wir laufen mehr oder minder durch. Allerdings muss man zweimal seinen Ausweis vorweisen, um das Areal betreten zu können. 

Die Ausgrabungen befinden sich in drei Bereichen. Die erste Halle ist die größte und zugleich diejenige, die man von Bildern kennt. Das mit der Industriehalle stimmt. Sie wurde den Chinesen nach der Öffnung Chinas von den Japanern geschenkt. Die Japaner waren das erste Land, mit dem China nach Jahren der Abschottung wieder Kontakt aufgenommen hat. Und das, obwohl sich die beiden Länder jahrelang aufs bitterste bekriegt haben. Der Zweite Weltkrieg wird in China als „widerstandskrieg gegen Japan“ bezeichnet. Damit kommt diesem Dach besondere symbolische Bedeutung zu. Es ist wohl nicht daran zu denken, dass diese Konstruktion, die eher an ein Provisorium erinnert, irgendwann ersetzt wird. Die symbolische Bedeutung ist einfach zu groß.

Die Terrakotta-Soldaten stehen in langen Reihen aufgestellt, dazwischen sind immer mal wieder Pferde. Die Offiziere stehen ganz vorne. Man kann sie daran erkennen, dass sie die einzigen sind, die Hüte tragen. Die Fußsoldaten haben das Haar hochgebunden zu einer Art Dutt, der mal links und mal rechts am Kopf festgemacht ist. Jeder Soldat ist auf einer Fußplatte befestigt, die den Namen der Figur trägt. Er spiegelt also einen echten Soldaten wieder, der zu Zeiten des Kaisers Qin gelebt hat. Diese Identifizierung war einerseits wahrscheinlich eine Auszeichnung, andererseits wurde damit auch belegt, wer über internes Wissen verfügte. Die Handwerker, die für den Bau der Anlage verantwortlich waren, wurden beim Tod des Kaisers ebenfalls getötet, um Geheimnisverrat zu verhindern. Rings um das Mausoleum des Kaisers sind Massengräber gefunden worden. In weiteren Mausoleen sind die Konkubinen des Kaisers, die keine Kinder bekommen haben, beigesetzt worden.

Die zweite Ausstellungshalle ist die kleinste. Hier sind ehemals unterirdische Stallungen zu sehen und daneben ein Versammlungsraum. Vermutlich wurden hier auch Opfer dargebracht. Man hat ein Hirschskelett gefunden und Waffen, von denen man heute nicht weiß, wie sie damals produziert werden konnten.

In der letzten Halle sieht man weniger Soldaten und dafür mehr eingedrückte Dachbalken, die auch früher in der ersten und zweiten Halle vorhanden waren. Unter den Dachbalken befinden sich weitere Figuren. Die Ausgrabungsarbeiten sind bei weitem noch nicht abgeschlossen. Zum Teil sind sie auch eingestellt worden, weil man heute noch nicht die Technik hat, um die Figuren zu bergen, ohne dass sie Schaden nehmen. Alle Figuren sind mit bis zu 13 Farben bemalt worden. Die wertvollste Farbe ist Zinnoberrot, aber auch die anderen Farben bestanden aus zermahlenen Halbedelsteinen und edlen Erden. Wenn ein Terrakotta-Soldat dem Sonnenlicht ausgesetzt wird, verschwinden die Farben innerhalb von 25 Minuten. Die Ausgrabungsarbeiten werden also dann fortgesetzt, wenn eine Technologie gefunden wurde, die diesen Zersetzungsprozess aufhalten kann. Man weiß, dass sich noch weitere tausende von Figuren und komplette Streitwägen unter der Erde befinden.

In ein paar Vitrinen auf der Besucher Ebene befinden sich in Glaskästen einzelne Figuren, die man näher betrachten kann. Mit ein bisschen Wartezeit kommt man da gut dran. Ich möchte gar nicht wissen, was bei Hochbetrieb hier los ist. Die Soldaten haben eine Rüstung getragen, die aus schuppenförmig übereinander gelegten Lederplatten bestand. Je höher der Rang, desto mehr Verzierungen. Das ging so weit, dass bestimmt wurde, wie die Barthaare getragen werden durften. Höherrangige Offiziere durften den Schnurrbart nach oben zwirbeln, die niedrigeren Offiziere mussten den Schnurrbart nach unten frisieren. Je höherer der Rang, desto höher durften die Spitzen der Schuhe nach oben zeigen, die Schuhe der Fußsoldaten waren flach. Man konnte dafür exekutiert werden, dass man die die Schuhspitzen zu hoch getragen hat. Die Qin Dynastie ist nicht nur bekannt dafür, dass sie die Schriftzeichen eingeführt und vereinheitlicht hat, sondern auch viele Verhaltensregeln aufgestellt hat, die bis heute Bestand haben. Die die Sache mit dem Schuhspitzen dürfte sich aber heute erledigt haben.

Wenn man die drei Hallen verlässt, kommt man in einen Bereich, der er wie ein Jahrmarkt wirkt. Überall sind Imbissbuden und Souvenirläden. Man wird auf Schritt und Tritt von fliegenden Händlern angesprochen, die einen regelrecht anbetteln, eine kleine Bronzefigur als Andenken zu kaufen. In einem der Souvenirläden sitzt mutterseelenalleine der letzte Bauer, der bei der Entdeckung der Terrakotta Armee dabei war. Er war damals 18 Jahre alt und einer von elf Männern, die bei Grabungsarbeiten für einen neuen Brunnen auf diese Figuren gestoßen sind. Heute verdient er seinen Lebensunterhalt damit, Touristen die Hand zu schütteln und Autogramme zu geben. Ich gönne ihm das von Herzen und beteilige mich daher an dieser Touristenattraktionen, obwohl das normalerweise so gar nicht mein Ding ist. Diese Entdeckung hat das Gesicht von Xi’an für immer verändert. Nicht nur, dass das Dorf der Entdecker zwangsumgesiedelt wurde. Die Attraktion ist heute Lebensgrundlage für Tausende von Menschen – soll er doch auch davon profitieren. Das haben auch andere, aber auf kriminelle Weise, versucht. Unsere Führerin erzählt, dass drei Bauern den Hut eines der Stein-Generäle entdeckt und verkauft haben. Die Behörden sind dem Betrug auf die Spur gekommen, haben den Hut aufgespürt und beschlagnahmt. Die drei Bauern wurden exekutiert.

Eigentlich hätte ich allein mit dieser Besichtigung schon wirklich ein mehr als erfüllten Tag gehabt, trotzdem nutze ich den letzten Abend in Xi’an aus, um noch mal aus dem Campus „auszubüchsen“. Ich fahre mit der U-Bahn in die Innenstadt, weil ich mir zum Sonnenuntergang den Glockenturm und den gegenüberliegenden Trommelturm anschauen möchte. Der Glockenturm hat früher tagsüber zu jeder vollen Stunde geläutet. Sobald die Sonne untergegangen ist, hat der Trommelturm dieselbe Aufgabe übernommen. Irgendwie hatte ich gehofft, dass zum Sonnenuntergang zumindest eine Trommel zu hören sein würde, aber ist nicht. der Sonnenuntergang verläuft völlig unspektakulär, was die Akustik betrifft. Unabhängig davon sind beide Türme optisch absolut spektakulär.

Vom Trommelturm aus blickt man hinunter in das bunte Treiben des muslimischen Viertels. Überall auf der Welt gibt es in den Großstädten ein China-Town – in Xi’an heißt das Pendant das muslimische Viertel. Wenn man das Gefühl hatte, bislang in China etwas nicht finden zu können:  hier findet man es. Der Wahnsinn hat einen Namen. Hier werden Knochen oder Kerne von Früchten zu Schmuckanhängern geschliffen und geschnitzt. Man kommt bekommt Schauspielfiguren für Schattentheater in jeder erdenklichen Farbe, Süßigkeiten, die an türkischen Honig erinnern, Obst, frisch gepresste Säfte und Hammelfleisch, das auf vielfältigste Weise zubereitet wurde.

Das Viertel besteht aus kleinen Gassen, bei denen man den Eindruck bekommt, sie wären überdacht. Dabei sind sie einfach nur so schmal und die Häuser so hoch, dass man den Himmel nur schwer sehen kann. Die Giebel sind kunstvoll geschnitzt und bemalt, dazwischen hängen Kabel-Konstruktionen, deren Anblick den Ingenieuren in meiner Familie schonwieder den Schweiß auf die Stirn treiben würde. Apropos Schweiß: es ist warm. Den ganzen Tag über hatten wir 33 Grad und auch jetzt noch ist es mehr als warm, wie ich hier im T-Shirt durch die Gegend streife. Ich schlendere ein bisschen durch die Gassen, leiste mir einen Granatapfelsaft, kleine kandierte Äpfel am Spieß und zwei frittierte Küchlein mit Kakifüllung.

Mittlerweile ist es dunkel. Um den Trommelturm herum fliegen die Fledermäuse – sie haben die Schwalben abgelöst, die tagsüber in Scharen um den Glockenturm herumschwirren. Ich beschließe, es den Schwalben gleich zu tun, den Tag für heute zu beenden und mein Bett zu suchen.