China

Barbara Lange

„Barbara, you is my friend!“

24.05.2024

“Barbara, you is my friend!” – Was haben dieser Satz und Shaoxing gemein? Beide sind in der äußeren Form – sagen wir: ausbaufähig. Was die inhaltlichen Werte betrifft, so sind beide direkt, bemüht, offen und unverfälscht.

Shaoxing ist sozusagen meine Basis in China. Hier bleibt mein großer Koffer stehen, wenn ich auf Reisen geh, um einen Kurs oder einen Vortrag zu halten. Genaugenommen bin ich nicht in Shaoxing, sondern in Lanting, einem kleinen Vorort. Es gibt hier zwei Kreuzungen, eine Grundschule, ein paar winzige Läden, die landwirtschaftlich Geräte anbieten und sonst nichts. Und ich meine NICHTS. Hier kann man nicht mal einen Kaffee kaufen. Sobald man die Hauptstraße verlässt, kommt man in Erdbeerfelder oder an einen Fluss, in dem Frauen ihre Wäsche waschen oder an einen kleinen Teich, in dem ein Mann allabendlich sein Netz einholt, mit dem er Wasserschnecken fängt. Direkt hinter dem Atelier befindet sich ein Tempel ohne jegliche Aktivität. Ich weiß gar nicht, ob der überhaupt „aktiv“ ist. Und überall wird gebaut. Hier werden gerade mindestens 20 Hochhäuser hochgezogen, vor kurzem hat ein Krankenhaus eröffnet und seit letzter Woche gibt es einen Supermarkt – ohne Kaffee – im Erdgeschoss von meinem Hotel. Es ist ländlich, aber wahrscheinlich wird man es in 5 Jahren nicht wiedererkennen, weil es von der Stadt Shaoxing überrannt worden ist.

Das Atelier gehört zu einem Patchwork-Museum. Mit dem hadere ich genauso ein bisschen wie mit dem Rest von Lanting. Das Dach ist vermutlich nicht ganz dicht, es gibt definitiv ein Feuchtigkeitsproblem, überall blättert in regelmäßigen Abständen die Farbe von der Wand und auf einem Quilt schläft eine kleine Fledermaus. Jedenfalls rede ich mir ein, dass sie dort kuschelt. Sie pennt seit mindestens drei Wochen auf derselben Stelle. Das kann nicht ganz gesund sein.

Deswegen bin ich auch ganz froh, wenn ich immer mal wieder rauskomme und etwas anderes sehe. Allerdings bin ich dann auch wieder erleichtert, wenn ich zurückkomme. Es ist ruhig, ich kann tun und lassen, was ich will und wenn ich Hilfe brauche, steht immer sofort jemand parat. Also: fast immer. Heute Morgen bin ich aus dem Supermarkt herausgekommen und habe – ganz klassisch – in mein Handy geschaut und nicht darauf geachtet, wo ich hingehe. Liebe Kinder vor den Geräten: Macht dies zuhause bitte nicht nach! Ich habe eine Stufe übersehen und mich frontal auf den Bürgersteig gelegt. Mit der Eleganz einer gefällten Eiche. Mal eben die körpereigenen Reflexe testen. Die gute Nachricht: Alle Systeme in Ordnung. Ich habe mir nicht wirklich wehgetan. Mein chinesisches Handy hingegen flog im hohen Bogen und hat jetzt einen kleinen Sprung im Display. Interessiert hat diese Episode aber niemanden so wirklich. In China muss derjenige, der einen Rettungswagen ruft, im Zweifel für die Kosten aufkommen. Nachdem ich keinen der Passanten kannte, wäre das im Ernstfall schwierig geworden. Jeder hat verlegen weggeschaut und war vermutlich erleichtert, als ich mich aufgerappelt habe und weitergegangen bin.

 

In anderer Hinsicht fühle ich mich hier völlig sicher. Päckchen werden hier zugestellt, indem sie einfach auf dem Bürgersteig vor dem Haus, ich nenn es man „abgelegt“, werden. Es kommt nichts weg. Wie auch? Selbst in der kleinen Stichstraße zum Museum ist eine Überwachungskamera angebracht.

In Lanting lerne ich auch, dass der Bürgersteig der ideale Ort ist, um Kleinkinder zu waschen. Man stellt sie dazu auf einen dreibeinigen Hocker und wäscht sie mit einem Schwamm, den man in einer Wasserschüssel auswringt. Wenn das Kind rumspritzt hat man die Sauerei nicht im Bad, ist super! Wenn ich mal Enkelkinder haben sollte, mache ich das in Zukunft auch so.

Das Museum ist eine eigene kleine Welt für sich. Wenn ich hier Hilfe benötige, kommt sofort jemand. Ob das immer zweckdienlich ist, ist eine andere Frage. Als ich von meiner letzten Reise zurückgekehrt bin, habe ich festgestellt, dass das Klimagerät in meinem Atelier nicht funktioniert und neuerdings die Mehrfachsteckdose fehlt, an der ich sonst die Nähmaschine und die neu installierte Lampe über meinem Nähtisch einstecken konnte. Beide haben sind Eurostecker. In die Steckdose kann ich nur einen Eurostecker einstecken. Also entweder Nähen oder Licht. Ich bitte Chen um einen Mehrfachstecker, sie bringt mir auch freudestrahlen ein Verlängerungskabel mit mehreren Steckern, aber die sind alle so ausgeleiert, dass kein Eurostecker hält. Hausmeister Jin krabbelt einen Tag durch mein Studio, um das Kabel für die Klimaanlage zu reparieren. Als ihm das gelungen ist, vergesse ich vor lauter Freude ganz, ihn auf die Sache mit der Steckdose aufmerksam zu machen. Außerdem sind die Tage mittlerweile so lang, dass ich das Licht nur selten brauche.

Die Mädels im Atelier nebenan haben von den technischen Hürden mal abgesehen echt was drauf. Wir können uns nur schlecht verständigen, kommen aber gut miteinander klar.  Die drei setzen oft Abschlussarbeiten von Textildesign Student:innen in Stoff um, weil die Student:innen selbst nicht nähen können. Hier ein Beispiel.

Und dann zeigt sich Lanting wieder von einer ganz anderen Seite.

Heute Morgen kam Sammi an und fragte, ob ich mittags mit zum Tempel möchte. Sie würden alle dorthin gehen, um das Fastenfest zu feiern und bei der Gelegenheit im Tempel zu Mittag essen. Ich muss nicht alles verstehen. Nur „Ja“ sagen, zu jeder Gelegenheit, die sich mir bietet. Wir fahren mit zwei Autos los. Also: Wenn man mir nicht gesagt hätte, dass dies ein Tempel ist, hätte ich es von außen vermutlich nicht erkannt. Ich hätte mich wahrscheinlich nur wegen der vielen Kerzen gewundert. Draußen steht zwar ein Metallgestell, in dem man Räucherstäbe aufstellen kann, aber der Rest sieht eher unspektakulär aus. Im Hof sind ein paar Tische und Bänke aufgestellt und dahinter befindet sich ein einfaches, Gebäude, das gelb angemalt ist.

Tempel sind hier immer gelb, ansonsten sieht das Haus aus wie jedes andere auch, nur dass ich im Inneren die Altäre, ein Vorraum und ein Nebenzimmer befinden. In dem Nebenraum werden Räucherstäbe und Kerzen verkauft. Ich werde gefragt, ob ich auch Kerzen aufstellen möchte und ich habe den Eindruck, dass sich alle freuen, als ich „Ja“ sage. Normalerweise achte ich streng darauf, niemanden bei der Andacht zu fotografieren. In diesem Fall frage ich Jin, ob es in Ordnung wäre, den Altar zu fotografieren, wenn niemand davor steht. Er sieht überhaupt kein Problem. Also bitte ich ihn, Fotos mit meinem Handy zu machen, während ich mit meinen Kerzen die Rituale befolge, die Sammi mir vormacht. Als Einheimischer kann er besser einschätzen, was in Ordnung ist und was nicht und außerdem kommt so kein Fremder aufs Bild, der eventuell nicht fotografiert werden möchte.

 

Nachdem die Kerzen entzündet sind, werden im Vorraum zwei zusätzliche Tische aufgestellt und geschätzt 30 Schüsseln mit unterschiedlichen vegetarischen Gerichten aufgefahren. Dazu gibt es Apfelsaft und Kokosmilch, die jeder in seine Reisschüssel schenkt. Nur ich bekomme zwei Schüsseln, eine, um daraus zu trinken, die zweite, um daraus zu essen. Jin gönnt sich eine kleine Flasche Wein. Die anderen Frauen aus unserer Gruppe möchten alle nichts davon haben, aber ich komme nicht drumherum. Ich muss ca. eine halbe Reisschüssel davon trinken und immer wieder mit Jin anstoßen. Irgendwann beschließe ich, dass ich auch etwas zum kulturellen Austausch beitragen möchte, indem ich mit Jin Bruderschaft trinke. Es ist etwas schwierig, ihm seine Weinschüssel/Reisschüssel so in die Hand zu drücken, dass das Unterfangen klappen kann. Speziell seine Essstäbchen will er wirklich gerne behalten. Ich will die aber nicht im Auge haben, da bin ich etwas speziell. Außerdem reicht mir ein Unfall pro Tag. Ich nehme ihm die Essstäbchen also mit sanfter Gewalt weg und zeige ihm, wie man Bruderschaft trinkt. Ohne Küsschen. Das wäre in China völlig unangebracht. Auch so ernten wir ein reisen „Hallo!“. Jin platzt vor Stolz. Er erzählt jedem, der es nicht gesehen hat, dass wir Bruderschaft getrunken haben und will andere animieren, ebenfalls mit mir anzustoßen. Aber da hat er mit der Falschen gewettet. Ich suche mir meine Freunde schon genau aus. Jin bleibt ein Einzelfall.

Auf dem Rückweg ist Jin immer noch ganz aus dem Häuschen. “Barbara, you is my friend!” Er krault mir den Rücken und begleitet mich vom Auto zurück in mein Studio. Dort angekommen, weiß er nicht so genau, was er dort eigentlich will. Ich auch nicht. Er schaut sich geflissentlich um, um den Anschein von Geschäftigkeit zu erwecken und entdeckt, dass meine Lampe nicht eingesteckt ist. Und jetzt bekomme ich doch glatt ein Verlängerungskabel mit Steckern, die funktionieren. Hurra! Ich kann Nähmaschine und Licht gleichzeitig verwenden. Schade nur, dass ich morgen schonwieder abreise. Es geht nach Beijing. Dieses Mal handelt es sich eher um Urlaub. Meine Tochter kommt, um mich „abzuholen“. Bevor wir die Heimreise antreten, wollen wir ein paar Tage durchs Land reisen.  Ich weiß nicht, ob ich es in den kommenden Tagen schaffen werde, etwas in meinem Blog zu schreiben. Spätestens ab dem 10. Juni werde ich aber werde ich wieder von mir hören lassen. Es gibt noch so viel zu erzählen. Shaoxing – you is my friend!